Normalerweise füllt sich die Aula des Weser-Kollegs für die Abschlussfeiern, kulturelle Veranstaltungen oder Informationsvorträge darüber, welche Kurse wann gewählt werden müssen. Doch heute nicht, heute am 10.03.2022 ist der Anlass bedrückend. Sämtliche Plätze sind belegt, hier und da werden noch weitere Stühle herangeholt. Ruhe kehrt ein.
„Es herrscht Krieg in Europa“ – Diesen Einstieg des stellvertretenden Schulleiters Eicke Stolt hätten sich die meisten noch vor einigen Wochen sicher nicht vorstellen können. Seit dem Beginn des Großangriffs Russlands auf die Ukraine bewegt dieses Thema jedoch auch die Studierenden und das Kollegium des Mindener Weser-Kollegs. Im Unterricht, in den Pausen und auch nach dem Gong wurde viel darüber gesprochen und diskutiert. Aber es blieb nicht nur bei Worten. „Ihr habt schon viel gemacht. Danke!“ – Eicke Stolt spricht ganz besonders den Studierenden seinen Dank aus, denn 1131 Euro wurden bereits bei der Aktion „Hilfe für die Ukraine“ gespendet und an das Polnische Rote Kreuz überwiesen. Dazu kamen die vielen Sachspenden, die nun auf dem Weg nach Polen sind, um dort die Geflüchteten in Jastrzębie-Zdrój zu unterstützen, und die von der SV durchgeführte Mahnwache an der Friedensuhr.
Nun wandert das Mikrofon zum Gastredner Dr. Niclas Rüffer, er studierte VWL, seit 2018 lebt und arbeitet er in Kiew, bis vor wenigen Wochen war er noch vor Ort. Dann kam jedoch die Aufforderung des Arbeitgebers, nach Deutschland zurückzukehren. „Ich war genervt, dass ich das Land verlassen sollte, habe es nicht geglaubt, dass Putin seine Drohungen wahr macht.“ Schnell wird klar, er möchte kein politisches Statement setzen, sondern einen Eindruck der aktuellen Situation in der Ukraine vermitteln. Einige Finger steigen in die Höhe, als Rüffer fragt: „Wer von euch hat Familie in der Ukraine? Wer von euch kommt aus Russland?“ Während seines Vortrags über die geschichtlichen und politischen Entwicklungen der Ukraine steigt Rüffer immer wieder von der Bühne, sucht die Interaktion mit dem Publikum. Auch durch das kollegiale Du gelingt ihm die Balance zwischen Faktenvermittlung und der persönlichen Perspektive. Die Korruption im Land spiegelt er den Studierenden durch die Bestechung von Lehrkräften mit Schmiergeld für eine gute Note und die Landkarte zeigt allen deutlich auf, wie nah der Krieg ist: „Zwei Stunden Flug von Berlin und du bist da.“ Den Gastredner selbst verbindet auch eine persönliche Geschichte mit dem Weser-Kolleg – sein Vater Wolfgang Rüffer, der leider vor wenigen Wochen verstorben ist, war 36 Jahre Lehrer am Weiterbildungskolleg in Minden, das Lehrerzimmer kennt Dr. Niclas Rüffer somit noch aus dem Kindesalter.
Der Blick in der Aula richtet sich nun auf die exemplarischen Einzelschicksale, auf Familien, auf Freunde Rüffers: eine Kollegin hatte Covid, flog mit Lungenentzündung und Fieber; eine Freundin kann aufgrund ihrer schwerkranken Mutter nicht das Land verlassen und wird zunehmend von den russischen Panzern eingeschlossen; Männer zwischen 18 und 60 Jahren dürfen das Land nicht verlassen und deren Frauen und Kinder möchten sie nicht allein lassen; andere Kolleginnen wollten nicht fliehen, weil sie sich als Verräterin fühlten. Aber auch mit Russland verbinde ihn persönlich sehr viel, beruflich gab es einige Kooperationen und er habe dort gute Freunde gewonnen. Doch die stetig zunehmende Unterdrückung führe zu großer Angst, sich offen kritisch zu äußern. „Es sind nicht DIE Russen“, formuliert Rüffer die Bitte an alle, als es darum geht, was wir tun können. Demonstrationen und Sanktionen gegen Russlands Regierung sowie die solidarische Unterstützung der Ukraine seien das richtige Zeichen, nicht jedoch Anfeindungen und Stimmungsmache gegen die gesamte russische
Bevölkerung. Der finale Teil der Veranstaltung gibt den Studierenden nochmals die Gelegenheit ihre persönlichen Fragen an Dr. Rüffer zu richten, die sich überwiegend auf die momentane Situation der ukrainischen Zivilbevölkerung beziehen. Auch hier erweist sich Dr. Niclas Rüffer als großer Gewinn für die Studierenden: ungezwungen, offen, eloquent, ohne moralischen Zeigefinger - und vor allem authentisch!