Die Bohrmaschine läuft, es wird gemessen und gelötet, alle sind beschäftigt - noch ist nicht zu erkennen, was aus den rechteckigen Boxen werden soll. Der Studierende des Weser-Kollegs und Leiter des Projektes „Create your crazy clock“ Jannes Kröker verrät mir, dass die Wecker, die hier entstehen, neben der Sound- und Lichtfunktion (die übrigens wirklich, wirklich hell ist) zusätzlich mit einer Wasserspritze ausgestattet sein werden. All das programmieren und steuern die Studierenden dann mit ihrem Smartphone. Zu spät zum Unterricht zu kommen, gehört von nun an also der Vergangenheit an.
Direkt nebenan wird die Ersti-Party geplant, bzw. ein Konzept entwickelt, welches zukünftig allen neu beginnenden Kursen helfen soll, eine Feier zum Semesterstart zu organisieren.
Nur einmal über den Flur treffe ich im Nebenraum die Gruppe, die das Projekt „Das Kolleg in Farbe“ gewählt hat. Pinsel, Farben, Leinwände und, ganz wichtig, Nussecken – alles steht bereit für die Künstler:innen. Das Objekt: Das Weser-Kolleg Minden. Jeden Tag kommen die Studierenden in dieses Gebäude, welches sie nun malen wollen, um ihren Abschluss bei uns nachzuholen.
Doch heute und in den folgenden drei Tagen findet kein gewöhnlicher Unterricht statt, sondern die Projekttage 2022. Zur Wahl standen 28 verschiedene Projekte, so bunt und vielfältig wie das Kolleg selbst: kulinarisch, sportlich, kreativ, politisch, handwerklich, physikalisch, analytisch, musikalisch oder poetisch.
Mein neugieriger Rundgang durch das Kolleg geht weiter.
Nachdem ich durch die gefüllte und sehr bewegte Aula gegangen bin, ist der Blick in das Origami-Projekt im ersten Stock die absolute Entschleunigung. Ähnlich ergeht es einem, wenn man den Raum betritt, in dem das Projekt „Stricken“ stattfindet. Alle Teilnehmer:innen sind absolut konzentriert und ganz ruhig dabei. Und die Produkte können sich jetzt schon sehen lassen. Der Besuch im Keller des alten Proviant-Magazins führt mich zum Pantomimen-Workshop, geleitet von der Theaterpädagogin Stella Ballare. Kaum bin ich angekommen, werde ich auch schon mit in die nächste Übung integriert. Zu dritt sitzen wir nebeneinander auf Stühlen und haben nur vier Bewegungsmöglichkeiten zur Auswahl: nach links schauen, nach rechts schauen, aufstehen oder die Hand auf das Knie der anderen zu legen – keine Absprachen und natürlich keine Worte. Schon nach kurzer Zeit bin ich sehr erstaunt, wie viel in unserem Spiel passiert. Obwohl wir nicht miteinander sprechen, erzählen wir doch eine Geschichte. Ich verlasse eine gut gelaunte Truppe und mache mich auf ins Bildungsforum Minden, wo das Projekt „Was ist Stress?“ für vier Tage sein Zuhause hat.
Währenddessen irgendwo im umliegenden Wiehengebrige beim Projekt „Get out now“: Die Wandergruppe kommt erneut an einer ihnen nun schon mehrfach begegneten Pflanze vorbei, ein Neophyt, wie Ihnen Frau Dr. Andrea Schäfers erklärt hat, der als Zierpflanze in Gärten eingeführt worden ist und heute unseren Wäldern zu schaffen macht. Lara: „Ich werde mein ganzes Leben nicht mehr vergessen, dass dieses Ding Stachelpalme heißt.“ Deborah: „Ich auch nicht!“ Frau Schäfers: „Zum 10. Mal – das ist eine Stechpalme!!!“ Ich muss nicht so weit wandern, um beim Stressmanagement anzukommen. Ich platze quasi mitten in eine Übung hinein, die aufzeigen soll, welche Personen oder Ereignisse aus der Kindheit dazu geführt haben, wer man heute ist. Der Leiter Thomas Streipert fängt mich freundlich auf und in der gemütlichen Atmosphäre fällt es mir tatsächlich überhaupt nicht schwer, mich sofort darauf einzulassen. Im Anschluss erfahre ich von den Teilnehmer:innen, dass ganz besonders die praktischen Übungen zur Meditation und Entspannung positiv bewertet werden und dass sie sich wünschten, Thomas käme einmal die Woche in die Schule, auch wenn es eine Herausforderung sei, Fragen über und an sich selbst zu beantworten. Beschwingt und mit Gedanken an meine Kindheitsheldin Regina Regenbogen mache ich mich wieder auf in Richtung Aula, in der die Möbelstücke des Projektes „Upcycling“ immer mehr zu kunstvollen Einzelstücken werden und direkt nebenan sowohl die physikalischen Experimente vorbereitet werden als auch an vielen Drahteseln unter der Leitung der lokalen Fahrradwerkstatt „Rad und Tat“ geschraubt wird. Es macht Spaß, das Weser-Kolleg so zu erleben, hinter jeder Tür verbirgt sich etwas anderes, oft Unerwartetes. Im nächsten Klassenraum zum Beispiel finde ich das Projekt „Clips und klar“, welches die Projekttage in Form von selbst erstellten und bearbeiteten Videos dokumentiert. Außerhalb des Weser-Kollegs spielt sich auch einiges ab, vor allem sportlich: Neben Fußball- und Schwimmkursen führt Herr Dr. Suermann in seinem Projekt „Luta Livre“ in das Brasilianische Ringen ein. In der Stadt unterwegs mit Nina Pape von der Gesellschaft CJZ Minden ist unter anderem die Gruppe „Jüdisch-preußisch – oder was?“ und generell sind die starren zeitlichen und örtlichen Rahmen, wie man sie in der Schule eigentlich gewohnt ist, in diesen Tagen aufgelöst.
Spätestens am letzten Tag der Projektwoche können alle sich von den Erlebnissen und Ergebnissen der verschiedenen Projekte überzeugen. In der Aula kommen alle zusammen und präsentieren ihre vergangenen Tage. Es duftet herrlich nach Waffeln und erfrischenden alkoholfreien Cocktails, zwischendurch ein lauter Knall und viel Rauch von den Physikern (alles so gewollt, keine Sorge). Das Projekt „Amnesty International“ findet die Möglichkeit Unterschriften für politische Gefangene zu sammeln und der Kurs „Gender & Diversity“ seine erstellte Umfrage durchzuführen. Und auch an diesem letzten Tag zeigt sich die Projektwoche von ihrer bunten und vielfältigen Seite: von greifbaren Produkten wie die des Projektes Bildhauerei unter der Leitung von Peter Paul Medzech über digitale Präsentationen wie den Interviews des „Angst essen Seele auf“-Workshops oder visuellen Eindrücken der Mindener Fotosafari bis hin zum Wortgefecht des Poetry Slams. Auch der stellvertretende Schulleiter Eicke Stolt zieht eine positive Bilanz: „So muss Schule sein. […] Weser-Kolleg geht auch anders.“ Sein Dank gilt dem Organisationsteam rund um Benjamin Feldmann, allen Studierenden und Kolleg:innen und ganz besonders auch den externen Partner:innen, die ein Projekt ermöglicht haben. Ich möchte das Schlusswort den Studierenden überlassen, die die Projekttage mit folgenden Adjektiven beschrieben haben: motivierend, entspannend, aufregend, perfekt, lehrreich, überraschend,intensiv, spaßig, kreativ… Na, wenn das nicht nach Wiederholung schreit…